Reitunterricht: Sitzschulung - Warum und wie geht's richtig?
- pferdewelten
- vor 2 Tagen
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„Der Reiter ist nur so gut wie sein Sitz" – diese alte Reiterweisheit hat nichts an Aktualität verloren. Ob im Dressurviereck, im Springparcours oder auf entspannten Ausritten: Der korrekte Sitz ist Ihre Geheimwaffe für harmonisches Reiten und zufriedene Pferde. Doch warum fällt es vielen Reitern so schwer, die perfekte Balance zu finden? Und warum reagieren manche Pferde plötzlich gelassen und kooperativ, wenn ihr Reiter nur wenige Elemente seines Sitzes verändert? Dieser Ratgeber enthüllt die Geheimnisse einer effektiven Sitzschulung und zeigt Ihnen, wie kleine Veränderungen große Wirkung entfalten können – für mehr Harmonie, bessere Leistung und ein tieferes Verständnis der Kommunikation zwischen Mensch und Pferd.

Die Sitzschulung ist das Fundament jedes erfolgreichen Reitunterrichts. Ein korrekter Sitz ermöglicht nicht nur eine effektive Kommunikation mit dem Pferd, sondern schützt auch beide – Reiter und Pferd – vor Verletzungen und körperlichen Problemen. In diesem Ratgeber erfahren Sie, wie eine systematische Sitzschulung aufgebaut ist, welche Übungen sinnvoll sind und wie Sie Ihren eigenen Sitz kontinuierlich verbessern können.
Ein guter Sitz entwickelt sich nicht über Nacht, sondern ist das Ergebnis regelmäßigen Trainings, bewusster Körperwahrnehmung und gezielter Übungen. Ob Anfänger oder Fortgeschrittener – die Arbeit am eigenen Sitz bleibt eine lebenslange Aufgabe für jeden Reiter.
Die Bedeutung des korrekten Sitzes
Grundprinzipien der Biomechanik
Der korrekte Reitsitz basiert auf biomechanischen Prinzipien, die eine optimale Kraftübertragung zwischen Reiter und Pferd ermöglichen. Dabei gilt:
Ein ausgeglichener Sitz verteilt das Gewicht des Reiters gleichmäßig auf das Pferdegefüge
Die Wirbelsäule des Reiters sollte die Bewegungen des Pferdes elastisch aufnehmen können
Die korrekte Positionierung des Beckens ermöglicht feine Gewichtshilfen und absorbiert Stoßbewegungen
Auswirkungen auf das Pferd
Ein falscher Sitz kann weitreichende Konsequenzen haben:
Verspannungen im Rücken- und Schulterbereich des Pferdes
Ungleichmäßige Abnutzung von Gelenken und Gliedmaßen
Widersetzlichkeit und Ungehorsam als Reaktion auf unbequeme Einwirkung
Einschränkung der natürlichen Bewegungsentfaltung
Studien der Deutschen Reiterlichen Vereinigung (FN) zeigen, dass Pferde unter einem ausbalancierten Reiter bis zu 20% effektiver ihre Rückenmuskulatur einsetzen können.
Grundlagen des ausbalancierten Sitzes
Die korrekte Grundposition
Ein korrekter Grundsitz zeichnet sich durch folgende Merkmale aus:
Kopf und Oberkörper: Aufrecht, aber nicht steif. Die Schultern sind entspannt und liegen locker nach hinten unten.
Becken und unterer Rücken: Das Becken ist leicht aufgerichtet ("Sitzen wie auf einem Barhocker"), sodass drei Kontaktpunkte – die beiden Sitzbeinhöcker und der Schambeinast – gleichmäßig Kontakt zum Sattel haben.
Beine: Die Oberschenkel liegen locker am Sattel an, die Knie zeigen nach unten, die Unterschenkel hängen entspannt am Pferdekörper. Die Absätze sind leicht tiefer als die Zehen, ohne dass der Fuß aktiv nach unten gedrückt wird.
Arme und Hände: Die Oberarme liegen locker am Oberkörper an, die Ellbogen sind leicht gebeugt. Die Hände bilden mit den Unterarmen eine gerade Linie zu den Zügeln.
Die unsichtbare Verbindungslinie
Eine hilfreiche Vorstellung ist die gedachte Linie vom Ohr über die Schulter und Hüfte bis zur Ferse. Diese Linie sollte bei korrektem Sitz gerade verlaufen, ohne dass der Reiter dabei steif wirkt.
Häufige Sitzfehler und ihre Korrekturen
Der Stuhlsitz
Problem: Der Reiter sitzt zu weit hinten auf dem Gesäß, das Becken ist nach hinten gekippt. Die Beine rutschen nach vorne, der Oberkörper lehnt sich zurück.
Ursachen:
Mangelnde Körperspannung
Angst vor Vorwärtsbewegung
Fehlende Bauch- und Rückenmuskulatur
Korrekturen:
Bewusstes Aufrichten des Beckens durch Anspannung der Bauchmuskulatur
Übungen ohne Steigbügel, um die korrekte Beinposition zu finden
Mentale Vorstellung, dass ein Faden am Brustbein nach oben zieht
Der Spaltsitz
Problem: Der Reiter sitzt mit zu viel Gewicht auf dem Schambeinast, das Becken ist zu stark aufgerichtet. Dies führt zu einem hohlen Kreuz und mangelnder Geschmeidigkeit.
Ursachen:
Überkorrektur des Stuhlsitzes
Zu starke Anspannung der unteren Rückenmuskulatur
Fehlende Balance im Mittelkörper
Korrekturen:
Bewusstes Entspannen der unteren Rückenmuskulatur
"Abrollen" des Beckens, um die neutrale Position zu finden
Atemübungen zur Lockerung des Zwerchfellbereichs
Der schiefe Sitz
Problem: Der Reiter belastet eine Seite stärker als die andere, was zu einer Schiefstellung im Sattel führt.
Ursachen:
Natürliche Schiefe des Reiters
Kompensation für ein schief gehendes Pferd
Einseitige körperliche Belastung im Alltag
Korrekturen:
Sitzübungen mit geschlossenen Augen zur besseren Körperwahrnehmung
Gezieltes Gewichtstraining der schwächeren Seite
Regelmäßige Videoanalysen des eigenen Sitzes
Praktische Übungen zur Sitzschulung
Longenunterricht
Longenunterricht ist die effektivste Methode zur Sitzschulung, da der Reiter sich vollständig auf seinen Sitz konzentrieren kann, während ein erfahrener Longenführer das Pferd kontrolliert.
Übungen an der Longe:
Grundsitzübungen ohne Steigbügel und Zügel:
Arme seitlich ausstrecken
Arme über dem Kopf zusammenführen
Rumpfdrehungen links und rechts
Berühren der Pferdeschulter, der Kruppe, der eigenen Fußspitze
Balanceübungen:
Auf- und Abrollen des Beckens
Wechsel zwischen leichtem Sitz und Grundsitz
Balance auf einem Sitzbeinhöcker
Fortgeschrittene Übungen:
Schließen der Augen in verschiedenen Gangarten
Tempowechsel ohne Zügelhilfen ausbalancieren
Voltigierübungen wie die "Mühle"
Sitzübungen im freien Reiten
Auch ohne Longenführer können gezielt Sitzübungen in den Reitunterricht integriert werden:
Wechsel der Sitzpositionen:
Leichter Sitz – Grundsitz – tiefer Sitz
Bewusstes Verlagern des Gewichts (vorwärts, rückwärts, seitwärts)
Kurze Phasen des Reitens ohne Steigbügel
Koordinationsübungen:
Überkreuzen der Steigbügel über dem Pferdehals
Kreisen der Arme in entgegengesetzter Richtung
Berühren verschiedener Körperteile des Pferdes ohne Veränderung des Sitzes
Rhythmusübungen:
Laut mitzählen im Takt der Pferdeschritte
Bewusstes Mitschwingen mit der Pferdebewegung
Tempowechsel ohne Steigbügel ausbalancieren
Sitzschulung ohne Pferd
Um den korrekten Sitz zu trainieren, können auch abseits des Reitstalls effektive Übungen durchgeführt werden:
Fitness für Reiter
Gezieltes Training folgender Muskelgruppen unterstützt einen guten Sitz:
Core-Muskulatur: Planks, Rumpfbeugen, Rückenstrecker
Beinmuskulatur: Kniebeugen, Ausfallschritte, Adduktoren-Training
Hüftbereich: Übungen zur Mobilisierung des Hüftgelenks
Oberkörperstabilität: Ruderbewegungen, Schulterblatt-Stabilisierung
Sitztraining auf dem Gymnastikball
Der Gymnastikball simuliert die Bewegung des Pferderückens und eignet sich hervorragend für Sitztraining:
Grundposition einnehmen und Balance halten
Becken vor- und zurückkippen, um die neutrale Position zu finden
Kleine Auf- und Abbewegungen mit den Beinen ausbalancieren
Mit geschlossenen Augen die Balance halten
Mentales Training
Nicht zu unterschätzen ist die Kraft des mentalen Trainings:
Visualisierung des korrekten Sitzes vor dem Einschlafen
Körperwahrnehmungsübungen im Alltag (z.B. bewusstes Sitzen am Schreibtisch)
Studium von Videos guter Reiter mit anschließender Selbstreflexion
Sitzschulung für verschiedene Reitweisen
Dressursitz
Der klassische Dressursitz ist durch folgende Besonderheiten gekennzeichnet:
Längere Steigbügel (Bein nahezu gestreckt bzw. hängt locker aus der Hüfte herab)
Tiefes Einsitzen mit aufgerichtetem Becken
Schulterblätter zusammengeführt, Brustbein angehoben
Ellbogen eng am Körper
Spezifische Übungen:
Sitzübungen im versammelten Trab ohne Steigbügel
Übergänge zwischen verschiedenen Tempi innerhalb einer Gangart
Schulterherein-Übungen für die Körperwahrnehmung
Springsitz
Beim Springsitz ist die Gewichtsverlagerung nach vorne wichtig:
Kürzere Steigbügel
Vorwärtsverlagerung des Oberkörpers
Tiefer Nehmen der Fersen
Größerer Abstand zwischen Gesäß und Sattel
Spezifische Übungen:
Wechsel zwischen leichtem Sitz und Grundsitz
Balanceübungen im leichten Sitz auf der Geraden und in Wendungen
Rhythmusübungen im leichten Sitz über Cavaletti
Westernreiten
Der Westernsitz betont eine entspannte, tiefe Position:
Längere Steigbügel
Tiefes Einsitzen mit leicht zurückgelehntem Oberkörper
Füße weiter vorne im Steigbügel
"Stuhlsitz" als gewünschte Position
Spezifische Übungen:
Reiten mit einer Hand (Neck-Reining)
Gewichtsverlagerungsübungen für schnelle Wendungen
Sitzübungen im tiefen langsamen Jog
Hilfsmittel für die Sitzschulung
Technische Hilfsmittel
Die moderne Technik bietet zahlreiche Möglichkeiten zur Sitzanalyse:
Videoanalyse: Regelmäßige Aufnahmen des eigenen Reitens bieten wertvolle Einblicke in Sitzfehler, die man selbst nicht wahrnimmt.
Spiegelsysteme: Große Spiegel in der Reithalle ermöglichen direkte Selbstkontrolle während des Reitens.
Sensor-basierte Systeme: Moderne Sensortechnologie in speziellen Sattelunterlagen kann Druckverteilung und Sitzposition messen und visualisieren.
Ausrüstungshilfen
Bestimmte Ausrüstungsgegenstände können die Sitzschulung unterstützen:
Sitzlehnen: Werden am Sattel befestigt und unterstützen die korrekte Beckenposition.
Sattel mit mehr Pausche: Bietet mehr Halt im Oberschenkelbereich und erleichtert das tiefe Einsitzen.
Gel-Sattelkissen: Verstärken das Feedback vom Pferderücken zum Gesäß des Reiters.
Spezielle Reithosen: Mit Vollbesatz oder strategisch platzierten Silikonpatches verbessern sie den Halt im Sattel.
Menschliche Hilfe
Die wertvollste Unterstützung bleibt jedoch der qualifizierte Reittrainer:
Einzelunterricht: Regelmäßige Einzel-Sitzschulungen mit einem erfahrenen Trainer bieten die effektivste Korrekturmöglichkeit.
Expertenaugen: Ein guter Trainer sieht Sitzfehler, die man selbst nicht wahrnehmen kann, und gibt individuelle Hilfestellungen.
Biomechanik-Spezialisten: Trainer mit Zusatzausbildung in Biomechanik können besonders präzise Korrekturen anbieten.
Fortgeschrittene Sitzschulung
Feines Reiten durch differenzierten Sitz
Mit zunehmendem Trainingsniveau kann der Sitz immer differenzierter eingesetzt werden:
Isolierte Gewichtshilfen: Die Fähigkeit, Gewicht gezielt zu verlagern, ohne die Körperposition zu verändern.
Diagonale Einwirkung: Die Koordination von Gewicht, Schenkel und Zügel auf diagonalen Achsen.
Mikrobewegungen: Minimale Sitzanpassungen, die vom Pferd wahrgenommen, aber von außen kaum sichtbar sind.
Reiten verschiedener Pferdetypen
Ein fortgeschrittener Reiter passt seinen Sitz dem jeweiligen Pferd an:
Hochblütiges Pferd: Ruhigerer, stabilisierender Sitz mit tiefer Atmung und entspannter Körperspannung.
Triebiges Pferd: Aktivierender Sitz mit mehr Dynamik und vorwärtstreibender Körpersprache.
Junges Pferd: Ausgleichender Sitz, der Unsicherheiten kompensiert und klare Führung bietet.
Weit ausgebildetes Schulpferd: Feiner, kommunikativer Sitz, der auf subtile Hilfen reagiert.
Fazit
Die Sitzschulung ist kein einmaliges Projekt, sondern ein lebenslanger Prozess der Verfeinerung und Verbesserung. Ein guter Reitsitz basiert auf:
Körperlicher Fitness und Körperbewusstsein
Regelmäßigem Training mit qualifiziertem Feedback
Selbstreflexion und kontinuierlicher Weiterentwicklung
Anpassungsfähigkeit an verschiedene Pferde und Situationen
Investieren Sie Zeit in die Entwicklung eines ausbalancierten, effektiven Sitzes – Ihr Pferd wird es Ihnen mit besserer Leistung, Gesundheit und Kooperationsbereitschaft danken. Denken Sie daran: Ein guter Sitz ermöglicht nicht nur bessere Kommunikation mit dem Pferd, sondern schützt auch beide Partner vor physischen Problemen und Verletzungen.
Je feiner und ausbalancierter Ihr Sitz wird, desto harmonischer wird die Partnerschaft mit Ihrem Pferd – und genau diese Harmonie ist das ultimative Ziel jeden Reitunterrichts.
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